Talent – Fluch oder Segen?

18.10.2018

Hat die Kultur des Talentes nur Vorteile oder birgt es auch Gefahren?

Talent ist ein wichtiger Faktor in der heutigen Gesellschaft. Talentshows prägen das Bild unserer Medienlandschaft. Sei es jetzt im musikalischen Bereich, beim Kochen oder einfach alles bunt durchgemischt. Die Kultur des Talentes macht auch vor der Wirtschaft nicht halt. Organisationen und Firmen buhlen um die besten Talente und sind bereit eine Menge Geld dafür auszugeben. Auch der Staat würde sich eine Talentdiagnostik zu Beginn der Schulkarriere wünschen. Die Frage, die sich mir dabei stellt: Hat eine Kultur des Talentes nur Vorteile oder birgt es auch Gefahren derer wir uns vielleicht gar nicht bewusst sind? Um diese Frage zu beantworten müssen wir zuerst verstehen was Talent überhaupt ist. Die Autoren des Buches "War for Talent", Ed Michaels, Helen Handfield-Jones und Beth Axelrodbeschreiben es so:

Ganz generell ist Talent die Summe dessen, was eine Person aufgrund ihrer natürlichen Begabungen und Fertigkeiten, ihrer Veranlagung, Erfahrung, Intelligenz, Motivation und Geisteshaltung sowie ihres Wissens und Urteilsvermögens zu leisten vermag. Dazu gehört auch ihre Fähigkeit, sich weiterzubilden und als Mensch zu wachsen.

Besonders auffällig und auch hilfreich erscheint Talent im akademischen Zusammenhang. Besitzer eines solchen Talentes scheinen alles besonders leicht in sich aufzunehmen und zu verstehen. Das Paradoxe daran ist, dass die Prüfungsleistungen dann sehr oft im Gegensatz dazu stehen zu scheinen. Auch in meiner Arbeit hatte ich immer wieder mit Jugendlichen und Erwachsenen zu tun, die es laut Papier (psychologischen Leistungs- und Intelligenztests) zu Höchstleistungen bringen hätten müssen. Ganz oft war dies aber nicht der Fall. Woran liegt das? Kann es sein, dass hier andere Faktoren viel wichtiger sind? 

Schon Charles Darwin meinte: 

Es ist stets meine Überzeugung gewesen, dass sich die Menschen - mit Ausnahme von Schwachsinnigen - intellektuell kaum unterscheiden, dafür aber in ihrem Eifer und ihrer Fähigkeit, anstrengende Arbeit zu verrichten, und das halte ich nach wie vor für einen eminent wichtigen Unterschied. 

Wenn man jetzt unterschiedliche Studien zu diesem Thema liest und sich mit Menschen beschäftigt die Erfolg haben, bestätigt sich Darwins Hypothese. Menschen die erfolgreich agieren unterscheiden sich nicht im Maß des Intellekts aber hinsichtlich Ihrer Fähigkeit hart zu arbeiten sowie dranzubleiben und nicht aufzugeben. Die spannende Frage dahinter ist aber noch immer: Warum gehen wir immer noch davon aus, dass es unsere Begabung ist und weniger unsere Bemühung die darüber entscheiden wird, wo uns das Schicksal letzten Endes hinführt? Studien haben nämlich gezeigt, dass wenn wir zwischen zwei Menschen wählen müssten wer der erfolgreichere von den beiden ist, wir uns für jenen der als Naturtalent gilt entscheiden würden. So ist es nicht verwunderlich, dass dem "Talent" viel Wert beigemessen wird und viele zukünftige Schulen und Arbeitgeber viel Geld für Messinstrumente ausgeben würden um das "Supertalent" zu finden. Ginge es nach den Kriterien in "The War for Talent", wären diejenigen Unternehmen die erfolgreichsten, die aggressiv um Spitzenkräfte werben und gleichzeitig nicht minder offensiv die am wenigsten talentierten Mitarbeiter aussieben.

Der Journalist Malcom Gladwell hat sich genauer mit solchen Unternehmen beschäftigt und hat festgestellt, dass eine narzisstische Unternehmenskultur in solchen Betrieben gang und gäbe waren. Die Folge war, dass eine überproportional große Zahl der Angestellten einerseits die Nase unglaublich hochtrugen, andererseits aber auch unter einem enormen Druck standen, weil sie sich ständig etwas Neues einfallen lassen mussten, um ihre Überlegenheit zu beweisen. Eine solche Unternehmenskultur, so Gladwell, würde zwar punktuelle Glanzleistungen fördern die sich kurzfristig auf den Unternehmenserfolg auswirkten, dafür aber die kontinuierliche Weiterqualifizierung des Mitarbeiterstamms und damit das langfristige Wachstum des Unternehmens hemmen. 

Ist Talent etwas Schlechtes? Sind wir alle gleichermaßen begabt? Nein und nochmals nein. 

Es ist ganz augenscheinlich von Vorteil wenn man die Fähigkeit besitzt, Lernprozesse jedweder Art rasch zu durchlaufen und ob es uns nun gefällt oder nicht, manche von uns "packen es" eben noch schneller als andere. Was ist also dagegen zu sagen, wenn man "Naturtalenten" gegenüber "Strebern" den Vorzug gibt? Was ist so schlimm an Fernsehsendungen, in denen »Superstars« gesucht werden? Warum soll man besonders intelligenten Kindern nicht schon ab dem Alter von sieben oder acht Jahren Hochbegabtenförderung zukommen und sie im Fernsehen auftreten lassen? Welchen Schaden kann denn eine Sendung schon anrichten, die sich zum Beispiel "Das Supertalent" nennt? Meiner Ansicht nach gibt es einen ganz einfachen Grund warum wir unser Augenmerk nicht zu sehr auf "Talent" richten sollten: Indem wir "Talent" zu sehr ins Rampenlicht stellen riskieren wir, dass alles andere in seinem Schatten verkümmert. Wir senden unwillkürlich die Botschaft aus, dass sämtliche anderen Faktoren, die zum Erfolg beitragen, eher eine untergeordnete Rolle spielen.

Das eigene Mindset und das Wissen darum spielt eine tragende Rolle bei der Potentialentfaltung.

Ein aus meiner Sicht wichtiger Punkt warum Talent nicht im Mittelpunkt stehen sollte ist das, was das Wissen hinsichtlich seines Talentes mit einer Person anstellt und wie dieses Wissen Potentialentfaltung hemmen kann. Hier spielt vor allem das eigene Selbstbild oder auf Englisch "Mindset" eine tragende Rolle. Carol Dweck, eine amerikanische Psychologin, unterscheidet hier zwischen einem statischen und einem dynamischen oder Wachstumsmindset. Grundsätzlich geht es darum ob man glaubt die eigenen Fähigkeiten sind angeboren, also gewissermaßen Talente und können nicht verändert werden oder man könne seine Fähigkeiten durch Anstrengung und Lernen weiterentwickeln. 

Warum ist das wichtig zu unterscheiden? 

Die Forschungen von Carol Dweck uvm. zeigen, dass Menschen mit statischen Mindset Herausforderungen eher vermeiden. Dies geschieht aus reinem Schutz des Selbstwertes. Denn wenn ich so "talentiert" bin könnte es passieren, dass durch Misserfolg oder Fehler mein Selbstwert sinkt. Fehler werden von Menschen mit statischen Mindset nämlich als Mangel an Kompetenz angesehen und Fähigkeiten sowie Talent in Frage gestellt. Im Gegensatz dazu wird Anstrengung negativ bewertet und auf einen Mangel an Fähigkeiten zurückgeführt. Man könnte hier provokativ sagen, nur "dumme" Menschen müssen sich anstrengen. Sie können sich ihre Schwächen nicht eingestehen und daher auch nichts dagegen tun! Das Gefühl von Hilflosigkeit, Wut und Demotivation steigt. Es werden Schuldige im Außen gesucht und konstruktive Kritik wird ignoriert. Erfolge von MitarbeiterInnen oder Untergebenen werden als Bedrohung erlebt und so versuchen Menschen mit statischem Selbstbild diese Bedrohung zu eliminieren. So ist es auch verständlich, dass die Potentialentfaltung eines Unternehmens oder auch einer einzelnen Person gehemmt wird. Aus dieser Sichtweise gesehen birgt es auch Gefahren, wenn man mit "Talent" gesegnet ist.

Was man dagegen machen kann, welche Rolle hier das soziale Umfeld und ein dynamisches Mindset spielen erfahren Sie in meinem nächsten Blog.

Sollten Sie Fragen zu diesem Thema haben zögern Sie nicht mich zu kontaktieren! 

Literatur:

Charles Darwin, Mein Leben, übersetzt von Christa Krüger (Insel Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1993), S. 151-53.

Adam S. Wilkins, »Charles Darwin: Genius of Plodder?«, in: Genetics 183 (2009), S. 773-77.

Duckworth, Angela. GRIT - Die neue Formel zum Erfolg: Mit Begeisterung und Ausdauer ans Ziel (German Edition) (S.421). C. Bertelsmann Verlag. Kindle-Version.

Elizabeth Chambers et al., »The War for Talent«, in: McKinsey Quarterly 3 (1998), S. 44-57.

Ed Michaels, Helen Handfield-Jones und Beth Axelrod, The War for Talent (Harvard Business School Press, Boston 2001).

Malcolm Gladwell, »The Talent Myth«, in: New Yorker, 22. Juli 2002.

Duckworth, Angela. GRIT - Die neue Formel zum Erfolg: Mit Begeisterung und Ausdauer ans Ziel (German Edition) (S.422). C. Bertelsmann Verlag. Kindle-Version.

Carol Dweck Selbstbild: Wie unser Denken Erfolge und Niederlagen bewirkt (Piper, München 2009; übersetzt von Jürgen Neubauer)